Kann man einen Betrieb, eine Abteilung oder eine Gruppe „mit Integrität leiten“, ohne die unternehmerischen Ziele aus dem Blick zu verlieren? Man muss sogar, glaubt Mark Thiel. Der Diplom-Betriebswirt ist seit rund einem Vierteljahrhundert als Coach für Führungskräfte und Führungsteams von Organisationen tätig. Um sein Wissen und seine Erfahrung einer breiteren Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, hat er mit seiner langjährigen Geschäftspartnerin Heike Linnepe nun den Verein KYBERNESIS e. V. ins Leben gerufen.

Zweck des Vereins ist die „Unterstützung der Gesellschaftstransformation“, um schließlich eine „werteorientierte Unternehmenskultur“ zu entwickeln. Im Coaching geht es unter anderem darum, mehr persönliche Verantwortung zu übernehmen, Zivilcourage zu zeigen, eine natürliche und fachliche Autorität auszustrahlen. Das Angebot richtet sich an Inhaber*innen von Unternehmen, an Teamleitungen und aktive Mitglieder eines Führungsgremiums oder an Führungskräfte aller Hierarchieebenen.

Während draußen die letzten Arbeiten für die Eröffnung des Bochumer Weihnachtsmarktes laufen, haben sich an diesem Novemberabend 13 Herren und acht Damen in den Räumen der evangelischen Pauluskirche versammelt, um den Verein KYBERNESIS e.V. zu gründen. Schon die Vorstellungsrunde im Stuhlkreis gibt einen Eindruck, dass es sich bei den Beteiligten um ein hochkarätig besetztes Team handelt, dessen Mitglieder allesamt einen unterschiedlichen Background mitbringen – es befinden sich Psychologen, Psychotherapeuten, Sozialpädagogen, Ingenieure, Wirtschaftswissenschaftler, Systemische Berater und Unternehmer*innen darunter– und dennoch ein gemeinsames Ziel verfolgen.

Die Konstellation ist sehr wohl gewollt, wie Mark Thiel bei der Begrüßung betont. Die Teilnehmenden der Runde seien für die Arbeit prädestiniert, da sie allesamt „emotional hochintelligente Menschen“ seien, die bereit seien, für gemeinsame Ziele zu arbeiten und einzustehen. Während der Vorstellungsrunde fallen immer wieder Worte und Sätze, welche die Philosophie des Vereins gut beschreiben: Es gehe darum, den Teilnehmenden des Coachings und der Supervision zu vermitteln, möglichst wenig Druck aufzubauen und den Mitarbeiter*innen Freiheiten einzuräumen, kurz: sie zu mündigen, verantwortungsvolle, selbstkritische und kompetente Führungspersönlichkeiten zu entwickeln.

Diese Kompetenz soll sich auf mehreren Ebenen widerspiegeln. Einerseits im Job, wo es darum geht, fachlich zu überzeugen, und andererseits eben auch im sozialen Umfeld und in der Gesellschaft: Man wolle schließlich „Uniformität und autoritäres Denken abwenden“ und die „Diversität fördern“, wie Heike Linnepe betont. Dazu gehöre die Förderung der Gleichberechtigung von Menschen unterschiedlichen Geschlechts, Ethnien, Alters, Behinderung, sexuellen Orientierungen und Religionen in Führungspositionen.

Es sind also ebenso „harte“ wie „weiche“ Faktoren, die für den nachhaltigen Erfolg der Gesellschaft eine Rolle spielen und die nicht voneinander zu trennen sind: „Wer Führungsqualität ausstrahlen möchte, muss dies auch in seiner Freizeit verkörpern“, fasst Frau Linnepe zusammen. Die fachliche Expertise gehört daher ebenso zum Kern erfolgreicher Führungskultur wie die soziale Kompetenz, welche sich vor allem im Begriff der Zivilcourage zeigt. „Zivilcourage ist in einer demokratischen Gesellschaft verbunden mit einer Autorität, die nicht vorrangig auf Hierarchien gründet“, sagt Mark Thiel.

Die Vereinsgründung verläuft jedenfalls bei all der nötigen Ernsthaftigkeit locker und geht schnell über die Bühne. Nach kleineren Satzungsänderungen werden Mark Thiel und Heike Linnepe einstimmig in den Vorstand gewählt.

„Ich lerne Leute kennen, die vergleichbare Fragen haben und gemeinsam nach Lösungen suchen. Wir haben einen bestimmten Background und sind auf einem unterschiedlichen Level an den gleichen Themen interessiert“, nennt Dr. Sarah Henn ihre Beweggründe. Sie hat Diplom-Pädagogik/Erziehungswissenschaften promoviert studiert und kann als Wissenschaftlerin auch auf Coaching-Erfahrungen zurückgreifen. „Die Orientierung an den hier vorgestellten Werten ist in dem Milieu von Supervision und Coaching, das von Profit und Marktanteilen geprägt ist, eher selten.“ In der Klarheit und Offenheit, wie dies hier geschehe, sei das eine Ausnahme.

KYBERNESIS e.V. verfolgt einen interdisziplinären Ansatz: Die unterschiedlichen Fachbereiche sollen dabei nicht nebeneinander herlaufen, sondern sich gegenseitig ergänzen. Die Mehrzahl der Gründungsmitglieder von KYBERNESIS e.V. war in der Vergangenheit in Coaching und Supervisionen daran beteiligt, Grundlagen systemischer und werteorientierter Unternehmensführung zu vermitteln, Kommunikations- und Verhaltensmuster im Team zu analysieren und zu optimieren oder Selbstführung, Vertrauen, Verantwortung, Haltung & Werte in einer persönlichen Work-Life-Balance zu erarbeiten.

Ein weiterer Zweck des Coachings müsse es zudem sein, unabhängig bleiben zu können und auch Aufträge ablehnen zu können, wenn sie nicht zur eigenen Philosophie und Überzeugung passen. Andererseits gehe es darum, nicht umsonst zu arbeiten – und das im doppelten Sinne: „Wir dürfen uns nicht unter Wert verkaufen“, sagt Heike Linnepe, außerdem müsse man zu einhundert Prozent hinter dem Job stehen, auch dann, wenn das Ergebnis nicht den Erwartungen entsprechen sollte. Denn auch aus gescheiterten Projekten könne man seine Lehren ziehen, um es beim nächsten Mal besser zu machen.

Allein die in der Einladung aufgeführten Vorbilder lassen keinen Zweifel an der philanthropischen Ausrichtung von KYBRNESIS e.V.: Sie reichen von der Philosophin Hannah Arendt und dem Schriftsteller Kurt Tucholsky bis hin zu Politikern und anderen Personen des öffentlichen Lebens wie Dr. Martin Luther King. Allen gemeinsam war, sich für die Überwindung von zwischenmenschlichen Grenzen einzusetzen, sie engagierten sich für Versöhnung und Solidarität und kämpften gegen Diskriminierung und Vorurteile, kurz: Sie stellten sich in den Dienst der Aufklärung und Emanzipation des Individuums für eine menschenwürdige Gesellschaft.
Abgerundet wird der Abend mit einem stimmungsvollen musikalischen Beitrag: Kai Brandebusemeyer am Klavier und der Sänger Schahin Safarabadi brachten Lieder von Robert Schumann, Widmung (aus Myrthen Opus 26), Franz Schubert (Wanderers Nachtlied) und Ralph Vaughn Williams (Bright is the Ring of Words aus den Songs of Travel) zu Gehör, anschließend werden in geselliger Runde Sekt und Laugenbrezel gereicht. Auch hier gilt: Entscheidend ist, was man daraus macht.